Von Andrej Priboschek
Welche Konsequenzen hat die Digitalisierung für die Bildung und Ausbildung? Und andersherum: Wie sieht’s auf der anderen Seite aus – den Schülern? Wie lassen sich Jugendliche heute noch errreichen im Zeitalter des “Always-on”? Worauf sich Lehrer und Ausbilder in den nächsten Jahren einstellen sollten, machten zwei prominente Referenten auf dem Deutschen Ausbildungsleiterkongress (DALK), der am 21. und 22. November 2018 in Düsseldorf stattfand, deutlich: der Wissenschaftsjournalist und Physiker Ranga Yogeshwar sowie Deutschlands bekanntester Jugendforscher, Prof. Klaus Hurrelmann.
Ranga Yogeshwar wurde persönlich. Nach seinem ersten Schultag, seinerzeit noch in Indien, sei er höchst irritiert nach Hause gekommen. Er – Sohn eines Ingenieurs und einer Kunsthistorikerin, Enkel zudem eines renommierten Bibliothekars – sei ein neugieriger Junge gewesen, der sich gerne herumgetrieben und auf Neues eingelassen habe. In der Schule aber habe er auf einer Bank stillsitzen müssen, er habe nicht reden dürfen und habe sich eingesperrt gefühlt. „Das Lernen in der Schule war für mich zunächst mit Einschränkung verbunden, später mit schlechter Luft“, berichtete der renommierte Physiker, Deutschlands bekanntester Wissenschaftsjournalist.
Bis heute habe sich an diesem „Lernen im Gleichschritt“ wenig geändert, auch an den muffigen Klassenzimmern nicht. „Dabei ist Lernen ist kein linearer Prozess, das wissen wir alle“, sagte Yogeshwar, Vater von vier Kindern. Doch das, was jetzt über die Welt hereinbreche, werde auch die Schulen nicht unberührt lassen: eine Digitalisierung, die die Kultur grundlegend verändert. So wie teure Enzyklopädien innerhalb weniger Jahre praktisch vollständig durch das offene Online-Lexikon Wikipedia verdrängt worden seien, verändere sich auch die Bildung – das Modell „ein Sender, viele Empfänger“ habe ausgedient. „Heute ist jeder ein Sender“, erklärte Yogeshwar.
Das bedeutet für Schule und Ausbildung: Offene Lehr- und Lernprozesse werden die Wissensvermittlung in der tradierten Taktung von Fächern, Klassenarbeiten und Jahrgangsstufen ablösen. „Unser System muss fundamental anders werden“, so forderte Yogeshwar. „Wir müssen weg von einer Leistungsorientierung, die sich allein an Tests und Abschlüssen ausrichtet, hin zu einer echten Lernorientierung.“ Die Grundlage dafür: eine vertrauensvolle und enge Beziehung zwischen Lehrern und Schülern. „Ihr Job ist dafür unendlich wichtig“, so sagte Yogeshwar in Richtung seines Publikums – mehr als 2.000 Ausbildungsleitern und Berufsschulverantwortlichen auf dem Deutschen Ausbildungsleiterkongress.
“Die ganze Umwelt ist digital durchwirkt”
Wie sieht’s auf der anderen Seite aus – den heutigen Schülern? Deutschlands renommiertester Jugendforscher Prof. Klaus Hurrelmann erklärte die Besonderheiten der „Generation Z“, der nach der Jahrtausendwende Geborenen also. „Das Smartphone ist für sie wie ein Körperbestandteil“, erklärte der Wissenschaftler, „die ganze Umwelt ist digital durchwirkt“. 60 Prozent der Jugendlichen kämen mit der enormen Herausforderung, ständig online zu sein, gut zurecht – für sie erwüchsen aus dem Kulturwandel riesige Chancen. 20 Prozent aber hätten Schwierigkeiten, weitere 20 Prozent sogar gravierende Probleme mit der Allgegenwart des Bildschirms und der ständigen Erreichbarkeit. Bei ihnen litten Konzentrationsfähigkeit und Leistungsvermögen erheblich.
Bemerkenswert: Es seien vor allem Jungen und junge Männer, denen die Digitalisierung Probleme bis hin zur Abhängigkeit bereite. Ohnehin zeichne sich bei den Jugendlichen eine „echte Männerkrise“ ab. Jungen zeigten sich der Art, wie im Bildungssystem gearbeitet werde, zunehmend weniger gewachsen. „Wir brauchen dringend Konzepte, um sie anzusprechen“, sagte Hurrelmann. Möglicherweise seien digitale Unterrichtsformate ein Kanal, um sie für die Bildung gewinnen zu können. Solche stünden bei Schülern, auch bei Mädchen, ohnehin weit oben auf der Wunschliste. „Junge Leute wünschen eine flexible Abstimmung der Anforderungen“, erklärte der Forscher – heißt: Individualisierung, ein Eingehen auf persönliche Befindlichkeiten, wird gewünscht.
Das kommt nicht von ungefähr. Kinder von heute haben laut Hurrelmann eine extrem enge Bindung an ihre Eltern – und bekommen von ihnen viel Aufmerksamkeit. Ein bisschen zu viel nach dem Geschmack des Wissenschaftlers. „Die Eltern sind ihnen immer auf den Fersen“, sagt er. Das zeige sich, wenn Mütter mit Rollkoffer morgens in die Grundschulen strömten, um ihre Kinder zum Platz in der Klasse zu begleiten. Das zeige sich bei Veranstaltungen zur Berufsorientierung für 17- und 18-Jährige – die vor allem von Müttern besucht würden. Selbst bei seinen Vorlesungen säßen heutzutage Mütter, die eifrig mitschrieben, berichtete der Hochschullehrer – um Notizen für ihre erkrankten Söhne oder Töchter anfertigen zu können. „Überdrehen die Eltern?“, fragte Hurrelmann rhetorisch, um sogleich zu antworten. „Sie räumen alle Widerstände aus dem Weg und das ist nicht gut.“ Eine Folge: „Wenn man den jungen Leuten etwas Kritisches sagt, dann sind sie verschwunden. Das kennen sie nicht.“
Wie lässt sich darauf reagieren? Hurrelmanns Rat an Lehrer und Ausbildungsleiter: Um dem Wunsch nach Harmonie zu entsprechen, sollten klare Umgangsregeln aufgestellt und explizit erklärt werden („heute ist nichts mehr selbstverständlich, das ist ein heterogenes Völkchen“) – idealerweise unter Mitwirkung aller. Dann müssten die Regeln auch wirklich gelten. Konsequenz sei wichtig. Sie gebe jungen Menschen die Sicherheit, die sie heute bräuchten. Mit allzu großen Freiräumen hingegen, die in die ohnehin diffuse digitale Welt noch mehr Entscheidungszwänge trügen, brauche man ihnen nicht zu kommen. Hurrelmann: „Damit hat man schlechte Chancen.“
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