Von Andrej Priboschek
Anrührend schöne Initiativen aus der schulischen Praxis, zukunftsweisende Diskussionen zwischen Wissenschaftlern, Lehrkräften, Schülern und Bildungsengagierten, Workshops renommierter Experten zu Grundsatzthemen wie zeitgemäßer Demokratieerziehung oder künftiger Lehrerausbildung, aber immer wieder auch aufflammender Ärger über die schlechten Rahmenbedingungen: Wie unter einem Brennglas ließ sich auf der #KonfBD18 des Forums Bildung Digitalisierung beobachten, vor welch drastischen Umwälzungen das deutsche Bildungswesen steht. Die Konferenz, die 2018 am 15. und 16. November in Berlin stattfand, gilt als Leitveranstaltung für das Zukunftsthema Nummer eins.
Zuerst die schlechte Nachricht: Die Digitalisierung der Schulen steht dramatisch auf der Kippe. Damit der Bund dafür endlich – wie schon seit zwei Jahren angekündigt – fünf Milliarden Euro ausschütten kann, muss das Grundgesetz geändert werden, das die Länderhoheit bei der Bildung festschreibt. Weil dafür eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag nötig ist, braucht die große Koalition auch Zustimmung aus Reihen der Opposition. Und die fehlt immer noch. Zwei Sitzungstermine, auf denen eigentlich der Digitalpakt festgezurrt werden sollte, seien geplatzt – weil es nach wie vor keine Einigung gebe, so berichtet Heinz Wolff, Staatssekretär aus dem sächsischen Kultusministerium und Vorsitzender der KMK-Lenkungsgruppe „Bildung in der digitalen Welt“, vor den rund 650 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der #KonfBD18.
Ob die fünf Milliarden überhaupt noch kommen? Steht in den Sternen. Noch schlimmer: Kommunen und Länder haben ihr eigenes Engagement für die Digitalisierung der Schulen in Erwartung des Geldregens aus Berlin weitgehend gestoppt. Heißt: Deutschland leistet sich beim Zukunftsthema Nummer eins derzeit politischen Stillstand. Was das vor Ort bedeutet, macht Maike Schubert, Leiterin der (mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten) Freiherr-vom-Stein-Schule im niedersächsischen Neumünster deutlich. Das Kollegium stehe in den Startlöchern, die Konzepte seien längst entwickelt – aber die erforderlichen Geräte fehlten. Und nichts passiere. Es werde zwar immer zu Recht betont, dass Pädagogik vor Technik gehe, so Maike Schubert. Aber völlig ohne IT könne die Digitalisierung ja wohl kaum gelingen.
Die gute Nachricht: Trotz aller Widrigkeiten gedeihen an vielen Schulen bundesweit spannende Initiativen, für die die Digitalisierung der Hebel ist, um Unterrichtsreformen voranzubringen. Die Technik mit ihren vielfältigen Möglichkeiten zur Kommunikation und zur Kollaboration eröffnet Lernwege, von denen Lehrende und Lernende früher nicht mal zu träumen gewagt hätten. Beispiel Hermann-Lietz-Schule / Internat Schloss Bieberstein: Die schickt Schüler der 10. Klasse ein halbes Jahr lang auf eine Reise über drei Kontinente, um Lektionen vor Ort zu bekommen – Kunst in Florenz, Religion in Nepal, Wirtschaft in Indien oder Englisch in Südafrika. Ein Pädagoge begleitet die Schüler, der Fachunterricht läuft online. Selbst Klausuren finden dabei im vorgeschriebenen Turnus statt.
Ein überkandideltes Projekt nur für Millionärskinder? Keineswegs, so betont Koordinator Robert Miebach im Gespräch. „Es geht dabei ja hauptsächlich um die praktischen Erfahrungen – und darum, parallel dazu einen passenden Unterricht anzubieten. Und das ist mithilfe der Digitalisierung möglich.“ Der außerschulische Lernort könne ja genauso gut in einem Betrieb in der Nachbarschaft oder in einem Museum der Heimatstadt liegen, die (überaus positiven) Erfahrungen seien also durchaus übertragbar auf staatliche Regelschulen.
Ein anderes Beispiel: eine Alternative zum tradierten System der Leistungsbewertung, das Oberstufenkoordinator Björn Nölte an der Voltaireschule Potsdam praktiziert. Es geht dabei darum „Arbeitsvorhaben über einen längeren Zeitraum zu bewerten, wobei es den Schülerinnen und Schülern selbst freigestellt ist, zu welchen Zeitpunkten sie von mir das Feedback holen“, wie Nölte erklärt. „Die Schülerinnen und Schüler haben in umfangreichen Lernaufgaben in meinen beiden Unterrichtsfächern Deutsch und Geschichte von mir übers ganze Halbjahr eine komplexe Leistung zu erbringen. Sie bekommen von mir immer dann, wenn sie das möchten, ein Feedback zu ihrem bisherigen Stand, um mit diesen Hinweisen dann ihre Arbeit zu verbessern, um am Ende dann ein gutes oder sehr gutes Ergebnis zu erreichen – möglichst alle Schülerinnen und Schüler. Niemand wird mit einer schlechten Note bestraft, einige Schülerinnen und Schüler benötigen nur halt mehr Zeit oder mehr Rückmeldungen von mir, um zu diesem Ergebnis zu kommen.“ Das, so Nölte, sei ein fundamentaler Paradigmenwechsel.
Das wird nicht der einzige bleiben – wie Andreas Schleicher, internationaler Koordinator der PISA-Studien, deutlich machte: Deutschlands Schulen stehen vor einer Revolution. Und zwar nicht, weil die Digitalisierung nette neue Möglichkeiten bietet, den Unterricht bunter zu gestalten. Sondern weil die Digitalisierung die Welt so verändert, dass es künftig nicht mehr darum gehen kann, Wissen bloß zu reproduzieren. „Das kann Google besser und schneller“, sagt Schleicher.
„Wichtiger wird ein epistemisches Verständnis: Kann ich denken wie ein Mathematiker? Kann ich denken wir ein Naturwissenschaftler? Kann ich denken wie ein Historiker? Wenn wir zum Beispiel an die Geschichte denken: Im Zeitalter der Digitalisierung macht es wenig Sinn, sich Namen oder Plätze zu merken. Denn das ist im Grunde totes Wissen“, so befindet der OECD-Direktor. Wichtiger sei: „Kann ich erkennen, wie sich das Narrativ einer Gesellschaft entwickelt hat? Warum hat es sich so entwickelt? Kann ich die historischen Prozesse verstehen? Übertragen auf die Naturwissenschaften heißt das: Kann ich ein Experiment konzipieren? Kann ich unterscheiden zwischen Erkenntnissen, die man wissenschaftlich verstehen kann und Behauptungen, an die man glauben muss. Ich denke, dass ist das Entscheidende. Nicht das Anhäufen von Fachwissen, sondern die Kenntnis der Strukturen. Wenn wir dieses Strukturwissen nicht haben, dann werden wir auch nicht sinnvoll bei Google suchen können. Man muss lernen, die geeigneten Fragen zu stellen.“
“Lehrkräfte werden noch viel wichtiger”
Was bedeutet das für den Unterricht? Schleicher erklärt im Gespräch: „Die Rolle der Lehrkraft verschiebt sich – weg vom reinen Wissensvermittler, hin zum Mentor, der Lernprozesse ermöglicht und steuert. Lernen ist immer ein sozialer Prozess. Und Technologie kann diesen sozialen Prozess verstärken. Aber sie kann diesen nicht ersetzen. Insofern werden Lehrkräfte sogar noch sehr viel wichtiger, als sie es heute schon sind.“
Begeisterung löst diese Perspektive bei den meisten Lehrkräften allerdings nicht aus. Viele sehen sich schon heute am Rande ihrer Möglichkeiten – die Digitalisierung wird von ihnen als weiteres Problem wahrgenommen, neben Herausforderungen wie Inklusion, Integration und verhaltensauffälligen Schülern. „Das ist doch völlig verständlich“, entgegnet Schleicher. „Weil wir die Digitalisierung auf alles andere draufpacken. Wir verändern nichts. Natürlich ist das eine Zumutung. Es gibt zwar Enthusiasten unter den Lehrkräften, aber die sind nicht die Mehrheit. Wir müssen Anreize schaffen. Das bedeutet: die Zeit, den Raum für Veränderung geben. Das ist in jedem anderen Unternehmen auch so. Lehrkräfte müssen eben auch was davon haben. Die Digitalisierung wird für sie interessant, wenn sie sehen: Meine Arbeit verändert sich grundlegend. Sie wird leichter, spannender, durch die Zusammenarbeit mit Kollegen interessanter.“
Dabei allerdings wäre dann auch die Politik am Zug, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, so ist allenthalben auf der #KonfBD18 zu hören – und sei’s nur erst mal durch Entschlackung der Lehrpläne, um Freiräume für exploratives Lernen zu schaffen. Doch die Verantwortlichen, so scheint es, haben an den Ideen und Initiativen aus den Schulen genauso wenig Interesse wie an den Warnungen aus der Wirtschaft und der Wissenschaft, die Entwicklung nicht zu verschlafen. „Die Politik hat die Tragweite überhaupt nicht verstanden“, so empört sich Dr. Ekkehard Winter, Geschäftsführer der Telekom-Stiftung. Bezeichnend: Kaum ein Parteienvertreter lässt sich auf der Konferenz blicken, die immerhin als Leitveranstaltung für digitale Bildung in Deutschland gelten kann. Und Staatssekretär Wolff ist zu sehr in Eile, um sich mit den Anliegen der Teilnehmerinnen und Teilnehmern näher zu beschäftigen. Er gibt sein Statement und rauscht ab.
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