DÜSSELDORF. Alle drei Jahre – zuletzt Anfang Dezember – bekommen Deutschlands Schüler attestiert, dass ihre Leistungen aus internationaler Sicht mehr oder weniger mäßig sind. Die PISA-Studie, 2001 sorgte ihr erstmaliges Erscheinen für den bereits sprichwörtlichen „PISA-Schock“, nervt seitdem mit wenig erbaulichen Befunden zum deutschen Bildungssystem. Aber ist sie deshalb überflüssig, wie der renommierte Psychologe und Bildungsforscher Prof. Dr. Rainer Dollase unlängst in einem Gastkommentar auf News4teachers meinte? Hier kommt die Gegenrede: News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek erklärt, warum er PISA für unverzichtbar hält.

Hier geht es zum Gastkommentar von Prof. Dollase.

Wie genau muss der Blick auf Schule sein? Foto: Shutterstock

Gehen Sie hin und wieder mal zum Arzt, um sich durchchecken zu lassen? Ist sinnvoll, oder? Allerdings waren die letzten Untersuchungen doch eher unspaßig. Das Herumsitzen im Wartezimmer. Dann mussten Sie sich ausziehen, auch nicht schön. Gefunden hat er mal wieder nur das, was Sie ohnehin schon wussten. Übergewicht – Sie essen zu fett. Kurzatmigkeit – Sie rauchen. Muskelschwäche – Sie sitzen zu viel. Statt Ihnen dann aber einen präzisen Lebensplan aufzuschreiben, an den Sie sich Tag für Tag und Stunde für Stunde halten können, kamen lediglich die üblichen Ratschläge: gesünder essen, nicht mehr rauchen, mehr Sport treiben. Naja. Dann kann man den Arztbesuch auch sein lassen …

Als die erste PISA-Studie erschien, gab’s den mittlerweile sprichwörtlichen “PISA-Schock”

Sollte man den nächsten Untersuchungstermin wirklich canceln? Wenn’s nach Prof. Rainer Dollase geht: Klar. Denn neue Erkenntnisse sind von einer empirischen Untersuchung nicht zu erwarten. Er meint natürlich keine medizinische, sondern eine bildungswissenschaftliche – und zwar die größte der Welt: PISA. Seine Argumentation läuft aber auf das Gleiche hinaus: „PISA erlaubt keine eindeutigen kausalen Schlussfolgerungen darüber, was man tun muss, um besser zu werden.“ (Das tut eine medizinische Untersuchung auch nicht.) „Gerade wegen dieser kausalen Unsicherheit ist mit Ergebnissen mal so, mal so, mal besser, mal schlechter zu rechnen.“ (Ist beim Arzt auch so.) Weil ja ohnehin bekannt sei, woran es im deutschen Schulsystem hapert, hält er PISA für „nutzlos“.

Andrej Priboschek, Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus (hier auf der Bildungsmesse didacta in Köln). Foto: Anna Hückelheim

Um im Bild zu bleiben: Wäre ein regelmäßiger Gesundheitscheck auch dann noch nutzlos, wenn sich daraus eine Krebsdiagnose ergäbe? Die Antwort vorneweg: Natürlich nicht. Denn ein frühzeitiger Befund erhöht die Chance auf Heilung – das gilt für den Menschen, das gilt auch für ein Bildungssystem.

Erinnern wir uns doch mal: Als die erste PISA-Studie 2001 erschien, war ein Großteil der deutschen Öffentlichkeit tatsächlich davon überzeugt, dass die Bundesrepublik bei der Bildung Weltspitze sei. Deutschland, das Land der Dichter und Denker. Experten hatten damals schon so ihre Zweifel, denn dem PISA-Schock ging ein TIMSS-Schock voraus. Die erste repräsentative Vergleichsstudie in Mathematik und den Naturwissenschaften hatte 1997 ergeben, dass die deutschen Schüler allenfalls Mittelmaß sind. Und dann kam PISA.

Die problematischen Befunde von damals haben bis heute Bestand

Erstmals kamen die – bis heute weitgehend ungelösten – Probleme auf den Tisch: ein lediglich mäßiges Leistungsniveau insgesamt, eine relativ große Gruppe von abgehängten Schülern (rund 20 Prozent), eine Leistungsspitze, die im internationalen Vergleich weder breit noch spitze ist, ein international beispiellos enger Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg, der den optimistischen Ansatz vom Aufstieg durch Bildung als Märchen entlarvt. Dass sich an diesen Befunden bis heute nichts Wesentliches geändert hat, ist ja nicht PISA anzulasten. Deshalb aus der Bildungsstudie auszusteigen hieße, den Boten der schlechten Nachricht zu erschlagen – am Realitätsgehalt der schlechten Nachricht würde das jedoch nichts ändern.

Und die gibt es aktuell mal wieder. Die aktuelle PISA-Studie zeigt auf, dass sich die Schülerleistungen binnen drei Jahren in allen drei getesteten Kategorien, also Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften, verschlechtert haben – auch dann übrigens, wenn man die Flüchtlingskinder unberücksichtigt lässt (News4teachers berichtete). Dieser Trend nach unten ist sogar schon seit 2016, der letzten Studie, festzustellen. Es liegt nahe zu vermuten, dass sich der Lehrermangel einerseits und steigende Aufgaben andererseits (die Inklusion zum Beispiel) auswirken. Und das soll kein wichtiger Befund sein?

Wie sähen wohl die Schulen aus, wenn es PISA nicht geben würde?

Nebenbei: Dollase moniert, dass PISA nur Durchschnittswerte abbildet, aber die Unterschiede zwischen den Bundesländern so groß seien, dass die Aussagekraft des Durchschnitts begrenzt sei. Da ist schon etwas dran. Aber woher stammt die Erkenntnis denn, dass die Leistungsspreizung von Bundesland zu Bundesland so groß ist? Genau, aus PISA, genauer: aus PISA-E, einer 2003 zuletzt erschienenen Ergänzungsstudie (die dann eingestellt wurde, weil die Kultusministerkonferenz die zum Teil erbärmlichen Länderergebnisse so genau dann doch nicht mehr wissen wollte).

Apropos Kultusminister: Wie sähen wohl die Schulen in Deutschland aus, wenn es PISA nicht geben würde – wenn also von Seiten der Politik am Bildungssystem gespart werden könnte, ohne dass die Folgen zumindest alle drei Jahre öffentlich sichtbar gemacht würden? Schon deshalb ist die Bildungsstudie unverzichtbar: Sie liefert Lehrerverbänden und all den anderen, denen an gut ausgestatteten Schulen liegt, immer wieder Munition, um im gesellschaftlichen Kampf um stets knappe staatliche Ressourcen bestehen zu können.

Was guter Unterricht ist, wissen wir heute – auch dank PISA

Interessant ist dann der inhaltliche Schwenk, den Dollase am Schluss seiner Ausführungen vollzieht – hin zu einem Plädoyer für „einen deutlich konservativeren Unterricht“. Woher er seine  „Impulse und Denkanstöße“ nimmt, verrät er in seinem Essay nicht. Dabei wissen wir ziemlich genau, was guten Unterricht ausmacht. Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie extrahierte in seiner wegweisenden Meta-Studie „Visible Learning“ die Faktoren, die potenziell das schulische Lernen beeinflussen.

Etliche seiner Erkenntnisse mögen tatsächlich in die Kategorie „konservativerer Unterricht“ fallen – im Mittelpunkt steht der Lehrer. Der große Unterschied zum Unterricht von anno dazumal ist allerdings die Kernbotschaft: Lehrer sollen evidenzbasiert unterrichten. Heißt: Pädagogen sollen nach Belegen für die Wirksamkeit des eigenen Handelns suchen und ihre eigene Arbeit auf den Prüfstand stellen. Wie ist ihr Einfluss? Wie wirken sie? Kommt das, was sie den Schülerinnen und Schülern vermitteln wollen, bei ihnen an? Wie muss sich der Unterricht gegebenenfalls ändern? Das ist dann doch näher an der Output- und Kompetenzorientierung des Post-PISA-Zeitalters, als manche konservative Vertreter der Zunft wahrhaben wollen.

Abschließend die Frage: Woher nimmt Hattie denn seine Daten – er selbst erhebt ja keine? Die Antwort: Er hat empirische Untersuchungen mit Lernergebnissen von insgesamt mehr als 88 Millionen Schülern analysiert. Und die größte davon ist, klar, PISA.