Von Andrej Priboschek

Der Digitalpakt für die Schulen in Deutschland schien gestern noch vom Bundestag in trockene Tücher gebracht worden zu sein. Heute ist klar: Das Projekt steht vor dem Aus, vorerst jedenfalls. Immer mehr Bundesländer weigern sich, die vorgelegte Grundgesetzänderung im Bundesrat abzusegnen. Das ist ein Debakel für Bundesbildungsministerin Anja Karliczek.

Vergeblicher Einsatz: Bundesbildungsministerin Anja Karliczek auf der re:publica in Berlin, einer der wichtigsten Konferenzen zu den Themen der digitalen Gesellschaft. Foto: Jan Zappner/re:publica / flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Woche endet schlecht für Anja Karliczek – und für die Schulen in Deutschland. Die Bundesbildungsministerin steht vor einem Scherbenhaufen namens Digitalpakt: Immer mehr Bundesländer melden Widerstand gegen die vom Bundestag beschlossene Grundgesetzänderung an, die der Bundesrat aber noch absegnen muss.

Nachdem zunächst Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann prinzipielle Bedenken gegen ein Engagement des Bundes in die Schulpolitik der Länder kundtat, stören sich nun eine ganze Reihe von Landesregierungen am Kleingedruckten. Das wiederum nimmt jetzt der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zum Anlass, ebenfalls grundsätzlich zu werden – und seine Ablehnung anzukündigen. Heißt: Der Digitalpakt wird nicht, wie geplant, zum 1. Januar kommen. Ob er kommt – und wann –, das steht mal wieder in den Sternen.

Man traut angesichts solcher Nachrichten seinen Ohren kaum und fragt sich: Reden die eigentlich nicht miteinander? Die Christdemokratin Karliczek ist (neben Bundesfinanzminister Olaf Scholz, SPD) federführende Ministerin für den Digitalpakt. Auf SPD-Seite herrscht Ruhe. Scholz hat offenbar seine Hausaufgaben gemacht und die Genossen auf Linie gebracht – außer dem Grünen Kretschmann sind es nun vor allem die Länderfürsten der Union, die das Vorgehen der Bundesregierung zurückweisen. Das ist eine Klatsche für die Parteifreundin.

Tatsächlich hat sich offenbar eine Formulierung in die Grundgesetzänderung eingeschlichen, die vorher nicht mit den Ministerpräsidenten besprochen worden war. Die betrifft nichts Geringeres als die Finanzen. Sinngemäß steht jetzt zur Abstimmung, dass Bund und Länder bei Bildungsinvestitionen des Bundes künftig jeweils die Hälfte der Kosten tragen sollen. Der Digitalpakt wird zwar ausdrücklich davon ausgenommen. Das aber nährt umso mehr den Verdacht, dass es sich bei dem Fünf-Milliarden-Euro-Paket um ein Trojanisches Pferd handelt und die Bundesländer mit einem „Ja“ künftig in der Schulpolitik unter die Kuratel aus Berlin geraten. Der Bund bestimmt und die Länder sollen (mit-)bezahlen? Nein danke, so heißt es mittlerweile auch in Hessen, Schleswig-Holstein und Thüringen.

Unabhängig von der Auseinandersetzung um die Sachfrage ist es schlicht politisches Handwerk, das hier nicht klappt – und den Digitalpakt mittlerweile zum BER der Bildungspolitik macht, zur schier endlosen Baustelle. Eine Abfolge von Pleiten, Pech und Pannen begleitet das Projekt von Anfang an.

“Großer Sprung nach vorn”

Vor mittlerweile zwei Jahren trat Karliczeks Amtsvorgängerin Johanna Wanka vor die Presse – und kündigte vollmundig eine Digitaloffensive mit den Ländern an. „Wir müssen bei der digitaler Bildung einen großen Sprung nach vorn machen“, erklärte sie seinerzeit und stellte fünf Milliarden Euro in Aussicht, die der Bund in jährlichen Tranchen bis 2021 ausschütten wolle. Voraussetzung: Die Länder entwickeln ein Konzept dafür. Sie gehe davon aus, das Geld des Bundes absichern zu können. Sogar einen hübsch-kryptischen Namen hatte sich die PR-Abteilung des Bundesbildungsministerium bereits ausgedacht: „DigitalPakt#D“.

Das Konzept der Länder lag dann schon im darauffolgenden Juni vor. Irritierend allerdings schon zu diesem Zeitpunkt: Für die entscheidende KMK-Sitzung hatten angeblich weder Wanka noch einer ihrer Staatssekretäre Zeit – hinterher ließ man knapp verlauten, dass ein Konzept ohne Beteiligung des Bundes noch nicht als „Ergebnis“ gesehen werden könne. Auch dass keinerlei entsprechende Ausgabenposten in der Haushaltsplanung des Bundes zu finden war, weckte den Argwohn nicht nur von sozialdemokratischen Kultusministern.

Und dann? Hieß es beim Bundesbildungsministerium plötzlich: Das Geld könne erst in möglichen Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl „eingeworben“ werden. Im Klartext: Es gab keinerlei Verbindlichkeiten, keinerlei konkrete Planungen, kein Geld. Wankas „DigitalPakt#D“ entpuppte sich als heiße Luft.

Dann kamen die Bundestagswahl, die schier endlosen Koalitionsverhandlungen, mit Karliczek eine neue Bundesbildungsministerin und plötzlich eine Grundgesetzänderung als Vorbedingung, von der vorher nie die Rede gewesen war. Immerhin: aus dem „DigitalPakt#D“ war dem Namen nach ein aussprechbarer „Digitalpakt” geworden. Dass FDP und Grüne für die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag gewonnen werden konnten, durfte sich Karliczek durchaus noch als Kurzzeit-Erfolg ans Revers heften. Der hatte leider gerade mal 24 Stunden Bestand. Jetzt muss man konstatieren: Der Digitalpakt wird zum Debakel.

Von Andrej Priboschek

Welche Konsequenzen hat die Digitalisierung für die Bildung und Ausbildung? Und andersherum: Wie sieht’s auf der anderen Seite aus – den Schülern? Wie lassen sich Jugendliche heute noch errreichen im Zeitalter des “Always-on”? Worauf sich Lehrer und Ausbilder in den nächsten Jahren einstellen sollten, machten zwei prominente Referenten auf dem Deutschen Ausbildungsleiterkongress (DALK), der am 21. und 22. November 2018 in Düsseldorf stattfand, deutlich: der Wissenschaftsjournalist und Physiker Ranga Yogeshwar sowie Deutschlands bekanntester Jugendforscher, Prof. Klaus Hurrelmann.

Deutschlands bekanntester Wissenschaftsjournalist, Ranga Yogeshwar, hielt ein Plädoyer für neue Lehr- und Lernmethoden. Foto: Frank Metzemacher / DALK

Ranga Yogeshwar wurde persönlich. Nach seinem ersten Schultag, seinerzeit noch in Indien, sei er höchst irritiert nach Hause gekommen. Er – Sohn eines Ingenieurs und einer Kunsthistorikerin, Enkel zudem eines renommierten Bibliothekars – sei ein neugieriger Junge gewesen, der sich gerne herumgetrieben und auf Neues eingelassen habe. In der Schule aber habe er auf einer Bank stillsitzen müssen, er habe nicht reden dürfen und habe sich eingesperrt gefühlt. „Das Lernen in der Schule war für mich zunächst mit Einschränkung verbunden, später mit schlechter Luft“, berichtete der renommierte Physiker, Deutschlands bekanntester Wissenschaftsjournalist.

Bis heute habe sich an diesem „Lernen im Gleichschritt“ wenig geändert, auch an den muffigen Klassenzimmern nicht.  „Dabei ist Lernen ist kein linearer Prozess, das wissen wir alle“, sagte Yogeshwar, Vater von vier Kindern. Doch das, was jetzt über die Welt hereinbreche, werde auch die Schulen nicht unberührt lassen: eine Digitalisierung, die die Kultur grundlegend verändert. So wie teure Enzyklopädien innerhalb weniger Jahre praktisch vollständig durch das offene Online-Lexikon Wikipedia verdrängt worden seien, verändere sich auch die Bildung – das Modell „ein Sender, viele Empfänger“ habe ausgedient. „Heute ist jeder ein Sender“, erklärte Yogeshwar.

Das bedeutet für Schule und Ausbildung: Offene Lehr- und Lernprozesse werden die Wissensvermittlung in der tradierten Taktung von Fächern, Klassenarbeiten und Jahrgangsstufen ablösen. „Unser System muss fundamental anders werden“, so forderte Yogeshwar. „Wir müssen weg von einer Leistungsorientierung, die sich allein an Tests und Abschlüssen ausrichtet, hin zu einer echten Lernorientierung.“ Die Grundlage dafür: eine vertrauensvolle und enge Beziehung zwischen Lehrern und Schülern. „Ihr Job ist dafür unendlich wichtig“, so sagte Yogeshwar in Richtung seines Publikums – mehr als 2.000 Ausbildungsleitern und Berufsschulverantwortlichen auf dem Deutschen Ausbildungsleiterkongress.

“Die ganze Umwelt ist digital durchwirkt”

Wie sieht’s auf der anderen Seite aus – den heutigen Schülern? Deutschlands renommiertester Jugendforscher Prof. Klaus Hurrelmann erklärte die Besonderheiten der „Generation Z“, der nach der Jahrtausendwende Geborenen also. „Das Smartphone ist für sie wie ein Körperbestandteil“, erklärte der Wissenschaftler, „die ganze Umwelt ist digital durchwirkt“. 60 Prozent der Jugendlichen kämen mit der enormen Herausforderung, ständig online zu sein, gut zurecht – für sie erwüchsen aus dem Kulturwandel riesige Chancen. 20 Prozent aber hätten Schwierigkeiten, weitere 20 Prozent sogar gravierende Probleme mit der Allgegenwart des Bildschirms und der ständigen Erreichbarkeit. Bei ihnen litten Konzentrationsfähigkeit und Leistungsvermögen erheblich.

Bemerkenswert: Es seien vor allem Jungen und junge Männer, denen die Digitalisierung Probleme bis hin zur Abhängigkeit bereite. Ohnehin zeichne sich bei den Jugendlichen eine „echte Männerkrise“ ab. Jungen zeigten sich der Art, wie im Bildungssystem gearbeitet werde, zunehmend weniger gewachsen. „Wir brauchen dringend Konzepte, um sie anzusprechen“, sagte Hurrelmann. Möglicherweise seien digitale Unterrichtsformate  ein Kanal, um sie für die Bildung gewinnen zu können. Solche stünden bei Schülern, auch bei Mädchen, ohnehin weit oben auf der Wunschliste. „Junge Leute wünschen eine flexible Abstimmung der Anforderungen“, erklärte der Forscher – heißt: Individualisierung, ein Eingehen auf persönliche Befindlichkeiten, wird gewünscht.

Das kommt nicht von ungefähr. Kinder von heute haben laut Hurrelmann eine extrem enge Bindung an ihre Eltern – und bekommen von ihnen viel Aufmerksamkeit. Ein bisschen zu viel nach dem Geschmack des Wissenschaftlers. „Die Eltern sind ihnen immer auf den Fersen“, sagt er. Das zeige sich, wenn Mütter mit Rollkoffer morgens in die Grundschulen strömten, um ihre Kinder zum Platz in der Klasse zu begleiten. Das zeige sich bei Veranstaltungen zur Berufsorientierung für 17- und 18-Jährige – die vor allem von Müttern besucht würden. Selbst bei seinen Vorlesungen säßen heutzutage Mütter, die eifrig mitschrieben, berichtete der Hochschullehrer – um Notizen für ihre erkrankten Söhne oder Töchter anfertigen zu können. „Überdrehen die Eltern?“, fragte Hurrelmann rhetorisch, um sogleich zu antworten. „Sie räumen alle Widerstände aus dem Weg und das ist nicht gut.“ Eine Folge: „Wenn man den jungen Leuten etwas Kritisches sagt, dann sind sie verschwunden. Das kennen sie nicht.“

Wie lässt sich darauf reagieren? Hurrelmanns Rat an Lehrer und Ausbildungsleiter: Um dem Wunsch nach Harmonie zu entsprechen, sollten klare Umgangsregeln aufgestellt und explizit erklärt werden („heute ist nichts mehr selbstverständlich, das ist ein heterogenes Völkchen“) – idealerweise unter Mitwirkung aller. Dann müssten die Regeln auch wirklich gelten. Konsequenz sei wichtig. Sie gebe jungen Menschen die Sicherheit, die sie heute bräuchten. Mit allzu großen Freiräumen hingegen, die in die ohnehin diffuse digitale Welt noch mehr Entscheidungszwänge trügen, brauche man ihnen nicht zu kommen. Hurrelmann: „Damit hat man schlechte Chancen.“

Von Andrej Priboschek

Anrührend schöne Initiativen aus der schulischen Praxis, zukunftsweisende Diskussionen zwischen Wissenschaftlern, Lehrkräften, Schülern und Bildungsengagierten, Workshops renommierter Experten zu Grundsatzthemen wie zeitgemäßer Demokratieerziehung oder künftiger Lehrerausbildung, aber immer wieder auch aufflammender Ärger über die schlechten Rahmenbedingungen: Wie unter einem Brennglas ließ sich auf der #KonfBD18 des Forums Bildung Digitalisierung beobachten, vor welch drastischen Umwälzungen das deutsche Bildungswesen steht. Die Konferenz, die 2018 am 15. und 16. November in Berlin stattfand, gilt als Leitveranstaltung für das Zukunftsthema Nummer eins.

“Wissen reproduzieren kann Google besser”: PISA-Koordinator Andreas Schleicher hielt ein Plädoyer für ein neues Verständnis von Bildung. Foto: #KonfBD18

Zuerst die schlechte Nachricht: Die Digitalisierung der Schulen steht dramatisch auf der Kippe. Damit der Bund dafür endlich – wie schon seit zwei Jahren angekündigt – fünf Milliarden Euro ausschütten kann, muss das Grundgesetz geändert werden, das die Länderhoheit bei der Bildung festschreibt. Weil dafür eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag nötig ist, braucht die große Koalition auch Zustimmung aus Reihen der Opposition. Und die fehlt immer noch. Zwei Sitzungstermine, auf denen eigentlich der Digitalpakt festgezurrt werden sollte, seien geplatzt – weil es nach wie vor keine Einigung gebe, so berichtet Heinz Wolff, Staatssekretär aus dem sächsischen Kultusministerium und Vorsitzender der KMK-Lenkungsgruppe „Bildung in der digitalen Welt“, vor den rund 650 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der #KonfBD18.

Ob die fünf Milliarden überhaupt noch kommen? Steht in den Sternen. Noch schlimmer: Kommunen und Länder haben ihr eigenes Engagement für die Digitalisierung der Schulen in Erwartung des Geldregens aus Berlin weitgehend gestoppt. Heißt: Deutschland leistet sich beim Zukunftsthema Nummer eins derzeit politischen Stillstand. Was das vor Ort bedeutet, macht Maike Schubert, Leiterin der (mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten) Freiherr-vom-Stein-Schule im niedersächsischen Neumünster deutlich. Das Kollegium stehe in den Startlöchern, die Konzepte seien längst entwickelt – aber die erforderlichen Geräte fehlten. Und nichts passiere. Es werde zwar immer zu Recht betont, dass Pädagogik vor Technik gehe, so Maike Schubert. Aber völlig ohne IT könne die Digitalisierung ja wohl kaum gelingen.

Die gute Nachricht: Trotz aller Widrigkeiten gedeihen an vielen Schulen bundesweit spannende Initiativen, für die die Digitalisierung der Hebel ist, um Unterrichtsreformen voranzubringen. Die Technik mit ihren vielfältigen Möglichkeiten zur Kommunikation und zur Kollaboration eröffnet Lernwege, von denen Lehrende und Lernende früher nicht mal zu träumen gewagt hätten. Beispiel Hermann-Lietz-Schule / Internat Schloss Bieberstein: Die schickt Schüler der 10. Klasse ein halbes Jahr lang auf eine Reise über drei Kontinente, um Lektionen vor Ort zu bekommen – Kunst in Florenz, Religion in Nepal, Wirtschaft in Indien oder Englisch in Südafrika. Ein Pädagoge begleitet die Schüler, der Fachunterricht läuft online. Selbst Klausuren finden dabei im vorgeschriebenen Turnus statt.

Ein überkandideltes Projekt nur für Millionärskinder? Keineswegs, so betont Koordinator Robert Miebach im Gespräch. „Es geht dabei ja hauptsächlich um die praktischen Erfahrungen – und darum, parallel dazu einen passenden Unterricht anzubieten. Und das ist mithilfe der Digitalisierung möglich.“ Der außerschulische Lernort könne ja genauso gut in einem Betrieb in der Nachbarschaft oder in einem Museum der Heimatstadt liegen, die (überaus positiven) Erfahrungen seien also durchaus übertragbar auf staatliche Regelschulen.

Ein anderes Beispiel: eine Alternative zum tradierten System der Leistungsbewertung, das Oberstufenkoordinator Björn Nölte an der Voltaireschule Potsdam praktiziert. Es geht dabei darum „Arbeitsvorhaben über einen längeren Zeitraum zu bewerten, wobei es den Schülerinnen und Schülern selbst freigestellt ist, zu welchen Zeitpunkten sie von mir das Feedback holen“, wie Nölte erklärt. „Die Schülerinnen und Schüler haben in umfangreichen Lernaufgaben in meinen beiden Unterrichtsfächern Deutsch und Geschichte von mir übers ganze Halbjahr eine komplexe Leistung zu erbringen. Sie bekommen von mir immer dann, wenn sie das möchten, ein Feedback zu ihrem bisherigen Stand, um mit diesen Hinweisen dann ihre Arbeit zu verbessern, um am Ende dann ein gutes oder sehr gutes Ergebnis zu erreichen – möglichst alle Schülerinnen und Schüler. Niemand wird mit einer schlechten Note bestraft, einige Schülerinnen und Schüler benötigen nur halt mehr Zeit oder mehr Rückmeldungen von mir, um zu diesem Ergebnis zu kommen.“ Das, so Nölte, sei ein fundamentaler Paradigmenwechsel.

Das wird nicht der einzige bleiben – wie Andreas Schleicher, internationaler Koordinator der PISA-Studien, deutlich machte: Deutschlands Schulen stehen vor einer Revolution. Und zwar nicht, weil die Digitalisierung nette neue Möglichkeiten bietet, den Unterricht bunter zu gestalten. Sondern weil die Digitalisierung die Welt so verändert, dass es künftig nicht mehr darum gehen kann, Wissen bloß zu reproduzieren. „Das kann Google besser und schneller“, sagt Schleicher.

„Wichtiger wird ein epistemisches Verständnis: Kann ich denken wie ein Mathematiker? Kann ich denken wir ein Naturwissenschaftler? Kann ich denken wie ein Historiker? Wenn wir zum Beispiel an die Geschichte denken: Im Zeitalter der Digitalisierung macht es wenig Sinn, sich Namen oder Plätze zu merken. Denn das ist im Grunde totes Wissen“, so befindet der OECD-Direktor. Wichtiger sei: „Kann ich erkennen, wie sich das Narrativ einer Gesellschaft entwickelt hat? Warum hat es sich so entwickelt? Kann ich die historischen Prozesse verstehen? Übertragen auf die Naturwissenschaften heißt das: Kann ich ein Experiment konzipieren? Kann ich unterscheiden zwischen Erkenntnissen, die man wissenschaftlich verstehen kann und Behauptungen, an die man glauben muss. Ich denke, dass ist das Entscheidende. Nicht das Anhäufen von Fachwissen, sondern die Kenntnis der Strukturen. Wenn wir dieses Strukturwissen nicht haben, dann werden wir auch nicht sinnvoll bei Google suchen können. Man muss lernen, die geeigneten Fragen zu stellen.“

“Lehrkräfte werden noch viel wichtiger”

Was bedeutet das für den Unterricht? Schleicher erklärt im Gespräch: „Die Rolle der Lehrkraft verschiebt sich – weg vom reinen Wissensvermittler, hin zum Mentor, der Lernprozesse ermöglicht und steuert. Lernen ist immer ein sozialer Prozess. Und Technologie kann diesen sozialen Prozess verstärken. Aber sie kann diesen nicht ersetzen. Insofern werden Lehrkräfte sogar noch sehr viel wichtiger, als sie es heute schon sind.“

Begeisterung löst diese Perspektive bei den meisten Lehrkräften allerdings nicht aus. Viele sehen sich schon heute am Rande ihrer Möglichkeiten – die Digitalisierung wird von ihnen als weiteres Problem wahrgenommen, neben Herausforderungen wie Inklusion, Integration und verhaltensauffälligen Schülern. „Das ist doch völlig verständlich“, entgegnet Schleicher. „Weil wir die Digitalisierung auf alles andere draufpacken. Wir verändern nichts. Natürlich ist das eine Zumutung. Es gibt zwar Enthusiasten unter den Lehrkräften, aber die sind nicht die Mehrheit. Wir müssen Anreize schaffen. Das bedeutet: die Zeit, den Raum für Veränderung geben. Das ist in jedem anderen Unternehmen auch so. Lehrkräfte müssen eben auch was davon haben. Die Digitalisierung wird für sie interessant, wenn sie sehen: Meine Arbeit verändert sich grundlegend. Sie wird leichter, spannender, durch die Zusammenarbeit mit Kollegen interessanter.“

Dabei allerdings wäre dann auch die Politik am Zug, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, so ist allenthalben auf der #KonfBD18 zu hören – und sei’s nur erst mal durch Entschlackung der Lehrpläne, um Freiräume für exploratives Lernen zu schaffen. Doch die Verantwortlichen, so scheint es, haben an den Ideen und Initiativen aus den Schulen genauso wenig Interesse wie an den Warnungen aus der Wirtschaft und der Wissenschaft, die Entwicklung nicht zu verschlafen. „Die Politik hat die Tragweite überhaupt nicht verstanden“, so empört sich Dr. Ekkehard Winter, Geschäftsführer der Telekom-Stiftung. Bezeichnend: Kaum ein Parteienvertreter lässt sich auf der Konferenz blicken, die immerhin als Leitveranstaltung für digitale Bildung in Deutschland gelten kann. Und Staatssekretär Wolff ist zu sehr in Eile, um sich mit den Anliegen der Teilnehmerinnen und Teilnehmern näher zu beschäftigen. Er gibt sein Statement und rauscht ab.

Hier gibt es weitere Informationen zur #KonfBD18.